Der Tod und das kleine Mädchen
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war immer sehr
einsam. Es sei ein sonderbares Kind, sagten die Großen und es sei dumm und es
vertrage keinen Lärm, sagten die Kleinen - und darum spielte niemand mit ihm.
Ihr werdet nun gewiss denken, dass das sehr langweilig und sehr traurig für das
kleine Mädchen war. Ein bisschen traurig war es manchmal schon, aber langweilig
war es gar nicht, denn das kleine Mädchen langweilte sich niemals. Es kamen
immer so viele Gedanken zu ihm zu Besuch und diese Gedanken sah es auch alle
und sprach mit ihnen, als ob sie leibhaftig vor ihm stünden. Es war eine
Sprache ohne Worte und diese Sprache kennen alle, zu denen die Gedanken zum
Besuch kommen.
Die Gedanken, die zu dem kleinen Mädchen kamen, waren alle
sehr verschieden und sie waren auch ganz verschieden angezogen, wenn man das
von einem Gedanken überhaupt sagen kann. Es waren traurige Darunter in grauen
Kleidern, frohe in rosenfarbenen mit goldenen Sternen darauf, rote und lustige,
die Fratzen machten, und blaue, die von Märchenländern erzählten und deren
Augen immer irgendwo hinaus in eine weite Ferne sahen.
Es muss sehr still um einen herum sein, wenn so viele
Gedanken zu einem zum Besuch kommen. Darum ging das kleine Mädchen am liebsten
ganz allein auf den Dorffriedhof und setzte sich zwischen alle die Gräber unter
den hohen Bäumen. Das kleine Mädchen kannte alle die Gräber mit Namen und es
war wirklich merkwürdig zu beobachten, welche Gedanken an den verschiedenen
Gräbern zum Besuch kamen und an welchen Gräbern die Gedanken fort blieben. Es
war, als ob es ihnen da nicht recht gefiele.
Lehrreich und unterhaltend war es auch, was die Gedanken an
dem einen oder anderen Grabe sagten, wenn sie zum Besuch kamen. Was sie sagten,
war nicht immer schmeichelhaft für die Toten in den Gräbern. Abe das kleine
Mädchen konnte daraus sehen, an welchen Gräbern man am besten sitzen und sich
mit seinen Gedanken unterhalten konnte.
Als nun das kleine Mädchen wieder einmal auf dem Friedhof
saß und sich von seinen bunten Gedanken besuchen ließ, da kam eine Gestalt im
schwarzen Gewande durch alle die Grabhügel geschritten und ging gerade auf das
kleine Mädchen zu. "Bist du auch ein Gedanke?" ,fragte das kleine
Mädchen. "Aber du bist so sehr viel größer als die Gedanken, die mich
sonst besuchen, und du bist so schön, wie keiner von meinen vielen Gedanken es
jemals war." Die schöne Gestalt im schwarzen Gewand setzte sich neben das
kleine Mädchen.
"Du fragst ein bisschen viel auf einmal. Ich bin wohl
ein Gedanke - und doch wieder auch etwas mehr. Es ist für mich gar nicht so
leicht, dir das zu erklären. Sonst täte ich es gewiss gerne." -
"Bemühe dich nicht meinetwegen" ,sagte das kleine Mädchen, "ich
brauche dich gar nicht zu verstehen. Es ist auch sehr schön, dich bloß
anzusehen. Aber ich möchte gerne wissen, wie du heißt. Meine Gedanken sagen mir
immer alle, wie sie heißen, und das ist sehr lustig."
"Ich bin der Tod" ,sagte die schöne Gestalt und
sah das kleine Mädchen sehr freundlich an. Man musste Vertrauen zum Tod haben,
wenn man ihm in die Augen sah, denn es waren schöne und gute Augen, die der Tod
hatte. Solche Augen hatte das kleine Mädchen noch nicht gesehen. Das kleine
Mädchen erschrak auch gar nicht. Es war nur sehr erstaunt und überrascht und
fast freute es sich, dass es so ruhig neben dem Tod sitzen konnte.
"Weißt du" ,sagte es, "es ist so komisch,
dass alle Menschen Angst haben, wenn sie von dir sprechen, wo du so nett bist.
Ich möchte gerne mit dir spielen. Es spielt sonst niemand mit mir." Da
spielte der Tod mit dem kleinen Mädchen - wie zwei Kinder miteinander spielen,
mitten unter den Gräbern auf dem Friedhof. "Wir wollen Himmel und Erde
bauen" ,sagte das kleine Mädchen, "hoffentlich verstehst du es auch.
Wir machen den Himmel aus den hellen Kieseln und die erde aus den dunklen. Du
musst aber fleißig Steine suchen."
Der Tod suchte kleine Steine zusammen und er gab sich viele
Mühe, um das kleine Mädchen zufriedenzustellen. "Jetzt haben wir
genug" ,sagte das kleine Mädchen. "Ich finde, dass du sehr schön
spielen kannst. Willst du nun den Himmel bauen und ich die Erde oder umgekehrt?
Mir ist es einerlei. Du kannst dir aussuchen, was dir mehr Spaß macht. Ich
erlaube es dir." - "Ich danke dir sehr" ,sagte der Tod,
"aber siehst du, ich bin kein Kind mehr und verstehe nicht mehr so zu
bauen, wie man das als Kind versteht. Du bist ja noch ein Kind und ich denke,
du baust dir deinen Himmel und deine Erde selber. Aber ich will dir bei beidem
helfen."
"Das ist nett von dir" ,sagte das kleine Mädchen
und baute sich seinen Himmel und seine Erde aus den bunten Kieselsteinen. Der
Tod sah zu und half dem kleinen Mädchen dabei. "Jetzt pass auf"
,sagte das kleine Mädchen, "hier ist der Himmel und drin wohnt der liebe
Gott und hier ist die Erde und da wohne ich. Nun musst du auch noch eine
Wohnung haben. Aber ich weiß ja noch gar nicht, wo du wohnst?"
"Ich wohne zwischen Himmel und Erde" ,sagte der
Tod, "denn ich muss ja die Menschenseelen von der Erde zum Himmel
führen." - "Richtig" ,sagte das kleine Mädchen, "dann kriegst
du eine Wohnung aus hellen und dunklen Steinen zusammen. Es soll eine feine
Wohnung werden, du wirst schon sehen." Der Tod freute sich und sah zu, wie
das kleine Mädchen ihm seine Wohnung baute. "Höre mal" ,sagte das
kleine Mädchen, "du hast doch eben gesagt, dass du die Menschenseelen von
der Erde zum Himmel führst. Erzähle mir mal ein bisschen davon, wie du das
machst - und warum müssen wir überhaupt sterben? Kann man denn nicht einfach in
den Himmel 'rüberlaufen?" Als das kleine Mädchen das fragte, läuteten die
Glocken Feierabend.
"Hörst du die Glocken läuten?" ,fragte der Tod.
"Siehst du, mit den Menschenseelen ist das ganz ähnlich wie mit den
Glocken. Jede Menschenseele ist eine Glocke und du hörst sie läuten, wenn du
ordentlich aufpasst, in frohen und in traurigen Stunden. Bei manchen läutet sie
nur noch ganz schwach und das ist dann wirklich sehr schlimm. Wenn ich nun zu
einem Menschen komme, dann läutet seine Glockenseele Feierabend - und ich hänge
die Glocke dann in den Himmel. Dort läutet sie weiter."
"Läuten sie denn da alle durcheinander?" ,fragte
das kleine Mädchen. "Das muss gar nicht schön klingen, denn jede läutet
doch sicher ganz anders. Es ist gewiss nicht angenehm für den lieben Gott, sich
das immer anhören zu müssen." - "Das ist schon wahr" ,sagte der
Tod, "aber siehst du, die Glockenseelen kommen so oft auf die Erde zurück
und werden so lange umgegossen, bis sie alle ihr eigenes richtiges Geläute
haben und alle zusammenklingen. So lange aber muss ich die Menschen von der
Erde zum Himmel tragen."
"Das tut mir sehr leid für dich", sagte das kleine
Mädchen, "es ist gewiss eine sehr mühsame Arbeit. Aber pass nur auf, es
wird schon mal besser werden und dann hast du gar nichts mehr zu tun und wir
beide spielen immer so nett zusammen wie heute." Der Tod nickte und seine
Augen sahen in eine sehr, sehr weite Ferne.
"Deine Wohnung ist jetzt fertig" ,sagte das kleine
Mädchen, "ist sie nicht sehr hübsch geworden?" - "Sie ist sehr
hübsch" ,sagte der Tod, "ich danke dir auch. Abe es ist spät und du
musst jetzt nach Hause gehen. Es war schön, mit dir zu spielen." Und der
Tod reichte dem kleinen Mädchen die Hand. "Guten Abend" ,sagte das
kleine Mädchen und knickste, "kommst du nicht auch einmal mich besuchen?
Ich bin so viel allein." - "Ja" ,sagte der Tod freundlich,
"ich werde dich sehr bald besuchen, weil du so allein bist."
Bald darauf wurde das kleine Mädchen sehr krank und die
Leute meinten alle, dass es wohl sterben müsse. Die Leute waren traurig, denn
es erschien ihnen immer traurig, wenn einer starb - und besonders wenn es ein
Kind war, das das Leben noch vor sich hatte, wie sie sagten. Aber es war ja ein
sonderbares Kind, das die Großen nicht verstanden und mit dem die Kleinen nicht
spielen mochten. Am Ende war es so auch besser.
Als die Glocken Feierabend läuteten, da trat der Tod zu dem
kleinen Mädchen ins Zimmer. "Das ist nett von dir, dass du mich besuchen
kommst" ,sagte das kleine Mädchen. "Es ist Feierabend" ,sagte
der Tod und setzte sich zu dem kleinen Mädchen aufs Bett. "Ach ja" ,sagte
das kleine Mädchen, "davon hast du mir damals so schön erzählt, als wir
zusammen Himmel und Erde bauten. Dann kommst du gewiss, um meine Glockenseele
zu holen. Hoffentlich klingt sie aber auch hübsch, so dass sich der liebe Gott
nicht ärgert."
"Sie sehnen sich im Himmel nach einer reinen
Glocke" ,sagte der Tod, "darum haben sie mich gebeten, zu dir zu
kommen." - "Muss ich dann sterben?" ,fragte das kleine Mädchen.
"Das brauchst du gar nicht so zu nennen" ,sagte der Tod. "Siehst
du, es ist ganz einfach: An deiner Tür stehen zwei Engel und die führen dich
dann zum lieben Gott in den Himmel." - "Ich kann aber die Engel nicht
sehen" ,sagte das kleine Mädchen. "Ich werde ich mal auf den Arm
nehmen" ,sagte der Tod, "dann wirst du die Engel gleich sehen."
Da nahm der Tod das kleine Mädchen auf die Arme - und als er
es auf die Arme genommen hatte, da sah es zwei strahlende Engel in weißen
Kleidern mit schimmernden Flügeln und die Engel führten es zum lieben Gott in
den Himmel. Die Glockenseele des kleinen Mädchens aber läutete und es war lange
her, dass eine so reine Glocke oben ihren Feierabend geläutet hatte.
Im Himmel war es sehr schön und da war das kleine Mädchen
kein sonderbares Kind mehr, denn die großen Engel verstanden es und die kleinen
Engel spielten mit ihm. Auch der liebe Gott war zufrieden und freute sich, dass
er eine so reine Glocke bekommen hatte. Das kleine Mädchen fand es nur sehr
traurig, dass der Tod unten auf der Erde bleiben musste. Es sah ihn auf dem
Friedhof stehen, wenn es mal herunterguckte und dann nickte es ihm zu.
"Kannst du hören, wenn ich von oben 'runterrufe?"
,fragte das kleine Mädchen. "Ja", sagte der Tod, "du brauchst
auch nicht so laut zu rufen, denn für mich sind Himmel und Erde so nahe
beieinander, wie wir sie einmal zusammen aus Kieselsteinen gebaut haben."
- "Das freut mich" ,sagte das kleine Mädchen, "es ist bloß sehr
schade, dass ich nicht mehr mit dir spielen kann. Jetzt spielt niemand mehr mit
dir. Sie bloß nicht zu traurig darüber. Hörst du?"
"Es war schön, dass du mit mir gespielt hast"
,sagte der Tod, "und wenn ich einmal traurig werde, dann höre ich oben
deine Glockenseele läuten und freue mich darüber, dass einmal ein Kind mit mir
gespielt hat." - "Ja, tue das" ,sagte das kleine Mädchen,
"und ich will dir auch etwas Wunderhübsches sagen, was mir die großen
Engel erzählt haben. Die großen Engel sagen, dass einmal eine Zeit kommen wird,
wo alle Glockenseelen zusammenklingen und alle Menschen mit dem Tod wie die
Kinder spielen werden."
Manfred Kyber
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